Toxische Männlichkeit – ein problematisches Konzept?

Warum wir das Konzept "toxische Männlichkeit" nicht für Analysen verwenden, es aber in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten hilfreich sein kann.

Ulla Wittenzellner

Erschienen in: Ausgabe 01-2021
Rubriken: Theorie

Es gibt verbreitete Männlichkeitsbilder, die Jungen/Männern vorschreiben, immer souverän und mutig zu sein und keine Gefühle zuzulassen (außer Wut und Hass). Diese Bilder, die Männlichkeit über Dominanz und Gewalt definieren, werden im Moment oft unter dem Stichwort „toxische Männlichkeit“ verhandelt. Mit toxischer Männlichkeit werden die Anforderungen, Männlichkeitsbilder und daraus resultierenden Verhaltensweisen beschrieben, die offensichtlich problematisch sind. Zu diesen gehört die Vorstellung, Jungen und Männer seien unverletzlich. Jungen wird frühzeitig beigebracht eigene (Schmerz-)Grenzen nicht wahrzunehmen, Verletzungen nicht zu zeigen und sich „abzuhärten“. Das führt nicht nur zu verletzendem Verhalten sich selbst gegenüber (mit langfristigen Auswirkungen z.B. in der späteren Gesundheitsvorsorge oder im Hinblick auf die Fähigkeit tief gehende emotionale Bindungen einzugehen), sondern geht auch häufig mit dem Verlernen der Grenzen und Verletzbarkeit anderer einher. Hinzu kommt die Idee, Männer sollten physische Gewalt aushalten und austeilen können (z.B. „echte Kerle reden nicht über ihre Gefühle“, „ein Indianer kennt keinen Schmerz“ und ähnlich sinnlose Gedanken). Männer lernen außerdem, sie sollten völlig unabhängig sein und immer alles unter Kontrolle haben: Ein Phantasma, das nicht nur mit fehlender Empathiefähigkeit sich selbst und anderen gegenüber einhergeht, sondern auch liebevollen und intimen Beziehungen im Weg steht – romantischen ebenso wie Freund*innenschaften.

Diese gefährlichen, verletzenden – eben toxischen – Bilder von Männlichkeit gilt es zu verändern.

Gerade im Moment scheint das wichtig, denn wir beobachten eine Hinwendung zu Männlichkeitsbildern, die Eigenschaften wie Stärke, Wehrhaftigkeit und Unverletzbarkeit erneut zentral setzen. Vorstellungen von soldatischen, (weiße Frauen und Kinder) schützenden und (vor allem, was als „das Andere“ markiert wird, v.a. nicht-weiße Männer) verteidigenden Männern werden seit Langem in neonazistischen und völkischen Szenen vertreten. Heute erfahren sie Popularität weit über extrem rechte Kreise hinaus. Das Erstarken solcher Männlichkeiten wird häufig mit der Unsicherheit und Angst weißer Männer begründet: Der Angst vor dem Verlust von Privilegien, von Status und Macht, von männlicher Identität.

Funktionalität „toxischen“ Verhaltens

Genau hier greift das Konzept toxischer Männlichkeit zu kurz, denn es bezieht nicht den eigentlich problematischen Kern von Männlichkeit in seine Kritik mit ein.

Die Anforderungen (und Verlockungen), die zentral für Männlichkeit stehen, sind Souveränität und Kontrolle. Diese drücken sich vor allem durch Stärke und Dominanz über andere aus. Besonders und zentral als Dominanz über Frauen und nicht-binäre Personen, aber ebenso über andere Männer.

Diese Anforderung kann nun von unterschiedlichen Männern auf unterschiedliche Arten erfüllt werden. Gewalt und als „toxisch“ beschriebene Eigenschaften sind funktional, das heißt sie ergeben subjektiv Sinn und haben eine Funktion, weil sie zur Erfüllung der Anforderung Souveränität herangezogen werden.1 D.h. einige Jungen/Männer versichern sich der eigenen Stärke und Dominanz durch Abwertung und Unterdrückung anderer, besonders wenn ihnen wenig andere Möglichkeiten bleiben, die Souveränitätsanforderung zu erfüllen.2 Die oben beschriebenen wehrhaften/soldatischen Männlichkeiten können als ein Versuch der Wiedergewinnung einer (vermeintlich) verlorenen Souveränität verstanden werden.

Männer, die auf Grund ihres sozialen Status und ihrer finanziellen Ressourcen (und weiterer Marker wie Weißsein, Heterosexualität, Cisgeschlechtlichkeit, Körpernormen usw.) ohnehin große Verfügungsmacht über Ressourcen und andere Menschen haben, müssen nicht durch physische Gewalt ihre Dominanz und Souveränität bestätigen. Ganz im Gegenteil können sie im oben genannten Sinne „ungiftige“ Verhaltensweisen und Eigenschaften leben. Als Beispiel seien hier die als „soft skills“ durchaus willkommenen Eigenschaften wie Einfühlsamkeit und Zugewandtheit genannt, derer sich Männer in gehobenen Positionen bedienen können. Die eigene Souveränität wird durch machtvolle Netzwerke und materielle Ressourcen abgesichert. Diese Form der Dominanz ist oft weniger offensichtlich (im Gegensatz zu z.B. physischer Gewalt). Sie ist aber an der Stabilisierung und Reproduktion eines gewaltvollen, hierarchischen Geschlechterverhältnisses genauso beteiligt.3

Nur offensichtlich gewaltvolle Verhaltensweisen in den Blick zu nehmen und als toxisch zu beschreiben ist insofern klassistisch, als die eigentlichen Dominanz- und Herrschaftsverhältnisse, die eigentlich machtvollen Männlichkeiten und Männer, nicht in die Analyse einbezogen werden.

Deshalb verwenden wir das Konzept „toxische Männlichkeit“ nicht für Analysen, da es unserer Ansicht nach am eigentlich problematischen Kern von Männlichkeit vorbeigeht. Als Ansatzpunkt in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten kann es aber sehr hilfreich sein.

Auf der Ebene von zwischenmenschlicher Interaktion, beispielsweise in Paarbeziehungen, ist es definitiv enorm wichtig frei von (der Angst vor) physischer Gewalt zu leben und emotional bedeutsame Bindungen eingehen zu können. Moderne Konzepte von Männlichkeit, die Zugang zu den eigenen Emotionen, Bindungsfähigkeit und Sorgearbeit miteinschließen, sind ein Gewinn für unsere Beziehungen. Allerdings besteht die Gefahr andere Formen der Dominanz (z.B. andere in finanzieller Abhängigkeit zu halten, Status oder machtvolle Positionen einzunehmen) damit aus den Augen zu verlieren. Grundlegende Problematiken von Männlichkeit werden dadurch sogar verschleiert.

1 Mehr zu subjektiver Funktionalität diskriminierenden Handelns z.B. hier: Debus, Katharina „Rechtsextremismus als Suche nach Handlungsfähigkeit?“ in Debus, Katharina/Laumann, Vivien (2014, 2. Auflage) (Hrsg.): Rechtsextremismus, Prävention und Geschlecht. Vielfalt_Macht_Pädagogik, [Reihe Arbeitspapiere der Hans-Böckler-Stiftung], Düsseldorf, Bestellung und Download unter www.boeckler.de/5137.htm?produkt=HBS-005817&chunk=1&jahr=.

2 Diese Begründungen reichen allerdings bei Weitem nicht aus um die Hinwendung zu Hypermaskulinität momentan zu erklären. Auch Männer, die sehr machtvoll sind und denen vielfältige Ressourcen zur Verfügung stehen, orientieren sich an veralteten Männlichkeitskonzepten. Hier seien nur die Staatschefs Donald Trump, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoǧan als strahlende Beispiele genannt.

3 Hilfreich ist hier das Konzept hegemonialer Männlichkeit von der Soziologin Raewyn Connell, das beschreibt, wie solche machtvollen Formen von Männlichkeit ganz massiv auf den weniger machtvollen aber potentiell offensichtlicher gewaltvollen Formen von Männlichkeit beruhen und auf sie angewiesen sind. Nachzulesen in „Der gemachte Mann – Konstruktion und Krise von Männlichkeiten“ von Raewyn Connell

Ulla Wittenzellner arbeitet seit vielen Jahren forschend und (sich selbst und andere) bildend zu Geschlechterverhältnissen und verzweifelt regelmäßig an ihnen. Mal mit Freude, mal mit Wut versucht sie, der Gesamtscheiße etwas entgegenzusetzen. Ulla Wittenzellner ist Teil des Boykott Redaktionsteams.