Nähe aushalten lernen

Eine persönliche Auseinandersetzung mit Nähe, Beziehungen und damit verbundenen Wünschen und Ängsten

Marko Randow

Erschienen in: Ausgabe 01-2021
Rubriken: Beziehungen

Als ich nach 7-Jährigem Single Dasein die Hoffnung auf eine Beziehung langsam zu Grabe trage, lerne ich unerwartet Axel kennen. Wir gehen eine Beziehung ein, die uns beiden emotional viel abverlangt. Über diesen Schritt, die Schwierigkeiten und Hindernisse, die mir begegnen, wenn ich versuche Nähe aufzubauen, will ich im Folgenden schreiben.

Viel Daten, wenig Kennenlernen

Vor der Beziehung mit Axel hatte ich unzählige Sexdates und Affären. Tinder, Grindr, PlanetRomeo waren je nach Konjunkturzyklus, der zwischen „einfach nur vögeln“ und „endlich verlieben“ schwankte, meine Dauerbegleiter. Es waren gute Jahre, durchzogen von deprimierenden Phasen. Während die meisten Männer kamen und gingen, sind einige wenige als Freunde an meiner Seite geblieben. Mit den Jahren wuchs allerdings nicht nur die Zahl der Kontakte, sondern auch ein Gefühl der Leere, der Einsamkeit und der Unzufriedenheit. Sexdates brachten immer weniger Befriedigung, Affären wurden von mir oder meinem Gegenüber nach ein paar Treffen beendet. Irgendwie kriegte ich es nicht hin, eine Liebesbeziehung aufzubauen.

Im Grunde habe ich mich immer nach einer innigen Beziehung gesehnt, für die ich nur noch „den Richtigen“ finden müsse. Wie eine „innige Beziehung“ auszusehen hat, lernte ich ja in Film, Fernsehen usw.; den Rest dichtete meine Fantasie unter dem strengen Blick meiner Bedürftigkeit hinzu. In schlimmen Phasen wünschte ich mir eine Partnerschaft, in der „wir“ uns „gegen den Rest der Welt durchsetzen“. Dieses Gefühl war ungewöhnlich für mich. Als Linker bin ich im Prinzip der ganzen Welt gegenüber freundschaftlich eingestellt. Und Freunde haben zwar auch Grenzen zu respektieren, ab und an wird auch mal gestritten, aber grundsätzlich wollen sie mir nichts Schlechtes. Dementsprechend soll meine Beziehung sich eigentlich nicht gegen die Welt behaupten, sondern uns helfen, diese besser zu machen und uns zu entfalten. In meiner Beziehung soll es also irgendwie vertraut, empathisch, leidenschaftlich, wild und fürsorglich, aber dabei auch frei, respektvoll, unverbogen, offen und ehrlich zugehen. Nichts leichter als das!

Die Nadel im Kreuzköllner Heuhaufen

Und so sitzen Axel und ich im Februar 2019 des Nachts in meiner schummrig beleuchteten Küche. Während die Gastherme vor sich her zischt, erzählt Axel mir gerade entgeistert, wie seltsam er unseren Sex fand. Es war unser zweites Date und unser erster Sex. Sehr überrascht sei er gewesen, wie anders er mich beim Vögeln erlebt habe: Leidenschaftlicher, direkter und ungehemmter als erwartet. Und irgendwie ein bisschen so, als hätte er gar nicht dabei sein müssen. Wie Selbstbefriedigung, der er nur beiwohnte. Er ringt um die passenden Worte, lässt sich Zeit, die ich ihm auch einräume, während ich mich fühle, als haute mir jemand ein Brett vor den Kopf.

Die eigenen Eindrücke und Gefühle mitzuteilen braucht Mut und kann sehr hilfreich sein. Aber so harte Kritik, so viel Offenheit gleich beim zweiten Date? Da es meinem Selbstbild entspricht, will ich trotz meiner Verwunderung Interesse ausstrahlen, während ich aber denke: „Oh Backe, seine Offenheit finde ich verstörend und beim zweiten Date unpassend“. Seine Worte lösen in mir neben Verwunderung nämlich vor allem eines aus: Scham. Denn ich will mein Gegenüber ja nicht überrumpeln oder als Wichsvorlage behandeln – es sei denn, dass wir beide damit einverstanden sind. Habe ich seine Unsicherheit nicht mitbekommen? Dachte er vielleicht, ich wäre der Passive im Bett? Und er würde der Aktive sein? Ich verstehe nicht, wie diese Situation so passieren konnte, bin verunsichert.

An diesem Abend in meiner Küche resümiere ich für mich über Axel: „Wenn das schon so ungewöhnlich intensiv beginnt, wird es wahrscheinlich häufiger zu so verstörenden Situationen kommen. Da kann nichts draus werden. Der muss weg“ – so wie viele vor ihm gehen mussten oder mich verließen, wenn es im Hinblick auf Nähe und Sich Einlassen komplizierter wird. Aber es kommt zum Glück ganz anders. Ab März 2019 sind wir „offiziell“ zusammen und erst 15 Monate später trennen sich unsere Wege wieder.

Ich fand den ersten Sex ganz gut.

Verstecken und Erstarren

Körperliche Nähe und Sex blieben in der gesamten Beziehung zu Axel – wie zuvor mit anderen Männern auch – auf (scheinbar) unerklärliche Weise schwierig für mich. Während die ersten körperlichen Kontakte noch unkompliziert vonstattengehen, wendet sich irgendwann das Blatt: Ich spüre dann einen immer stärker werdenden inneren Widerstand, der sich als seltsames Kitzeln und als ein Drang zum Lachen äußert, und dazu führt, dass ich die Flucht aus der nunmehr bedrohlich wirkenden Nähe suche – obwohl ich Nähe und Sex eigentlich super finde. Ich versuche dann oft, das Drängen zu ignorieren und stattdessen das „richtige“ Verhaltensmuster abzurufen: Genuss zu empfinden oder wenigstens vorzuspielen. Mal hielt ich Axels körperliche Zuwendung so lange aus, bis er von mir abließ. Mal entzog ich mich „unauffällig“ zum Beispiel für einen Klogang; selten fing ich an zu reden und sagte dann sowas wie „da bitte gerade nicht“. Fast immer blieb ein Gefühl des Versagens bei mir zurück, das zum Teil gepaart war mit dem Wunsch, vor allem das scheinbar unlösbare Thema Sex doch einfach aus der Beziehung auszuklammern.

Ich würde gerne sagen, dass ich intensiv nachgeforscht habe, was da in mir vorgeht. Was könnte ich denn ändern, um Zuneigung teilen und geilen Sex haben zu können? Allzu oft bin ich aber vor dem Thema ausgewichen. Da ich es schon lange mit mir rumtrage und bisher keine Lösung gefunden habe, wollte ich es meiden und lieber irgendwie rumwurschteln. Wenn ich Glück habe und wenn die Beziehung stark genug ist, würden diese Probleme schon auf magische Weise verschwinden, dachte ich.

Es wäre auch schön, wenn der andere nichts von meinen inneren Kämpfen mitbekäme und wenigstens er zufrieden ist. Ich fürchte aber, dass auch das Wunschdenken ist. Denn Axel ist ein sensibler Kerl, der erfahrungsgemäß häufig etwas mitbekommen und vielleicht aus Freundlichkeit oder wegen eigener Befürchtungen und Ängste meistens nichts gesagt hat. Hin und wieder hat er sein Gefühl geäußert, hin und wieder habe ich was gesagt. Die Gespräche, die sich daraus entwickelten, haben manchmal zu mehr Verständnis, weniger Angst und mehr Nähe geführt. Manchmal haben sie uns aber auch ratlos oder verzweifelt zurückgelassen – denn was tun mit meinem offenbaren Drang, mich ihm zu entziehen?

Diese Themen kamen entsprechend oft in meiner analytischen Psychotherapie zur Sprache, die mich vor während und nach der Beziehung zu Axel vier Jahre lang begleitete, mich anstrengte und mir sehr half. Dort rang ich um Antworten dafür, wie Nähe und Sex zu etwas Angenehmen werden können. „Andere genießen Nähe immer, haben hemmungslos Sex und spritzen zum Schluss auch noch ohne Probleme ab“ – ist die Behauptung in meinem Kopf, die sicher keiner Realitätsprüfung standhalten würde. Man sollte sich echt kein Vorbild an Filmen oder Pornos nehmen.

Der Frage: „Was soll ich tun?“ geht aber die Frage voraus: „Was passiert da überhaupt?“. Leider komme ich erst nach der Trennung in der Therapie auf die Idee: Das Kitzeln, das Lachen, beides sind so etwas wie eine Übersprungshandlung. Statt zu genießen und mich hinzugeben, schütze ich mich vor einer befürchteten Gefahr. Was befürchte ich? Abgelehnt zu werden, ausgenutzt zu werden, mir oder ihm nicht gerecht oder gar abhängig gemacht zu werden. Denn wenn mein Gegenüber mir so viel Freude, so viel Gutes durch seine Berührung (oder jegliche Form der Zuneigung) geben kann, kann er durch deren Entzug auch sehr viel Schmerzen verursachen. Und die Annahme lautet: Diese Schmerzen würde ich nicht aushalten. Ist das realistisch? Ich war zumindest überzeugt davon.

Darwin im Nacken: Fight or flight?

Auf die Beziehung mit Axel hätte ich mich wohl nie eingelassen, wären da nicht Freunde und mein Therapeut gewesen, die mir „gut zuredeten“. Aus meinen Erzählungen haben sie vermutlich zurecht entnommen, dass ich Axel sehr gern habe und das haben sie mir gespiegelt. Sie haben sich angehört, welche Zweifel und Vorbehalte ich hege, und diese zerstreut und mir Mut gemacht. Später habe ich sie dafür mitunter verteufelt, wenn mich die Beziehung mit Axel wieder mal in den Wahnsinn trieb. Letzten Endes bin ich aber froh, die Beziehung eingegangen zu sein und nicht wieder die Flucht ergriffen zu haben.

Flucht ist leider ein Prinzip, das ich häufig in sozialen Situationen anwende. Es ist nicht so, dass ich physisch davonlaufe. Ich nehme gefühlsmäßig Reißaus, ohne dass mein Gegenüber das unbedingt merkt. Dabei geht es häufig darum, „gefährliche“ Gefühle wie Unsicherheit, Traurigkeit oder Enttäuschung entweder selbst nicht zu spüren und zu zeigen oder sie beim anderen wahrzunehmen. Allesamt Gefühle, die ich unangenehm und bisweilen beängstigend finde, denen ich aber bestenfalls zeitweise und schließlich doch nicht entrinnen kann – egal mit wie viel Netflix, Sport und Schokolade ich mich auch ablenke. Der mitunter unaussprechliche Wunsch nach Anerkennung, Zuneigung und Geborgenheit ist mächtig. So mächtig, dass ich wider besseres Wissen Situationen aufsuche, von denen ich annehmen darf, dass sie potenzielle Gefahren, wie z.B. emotionale Nähe, in sich bergen.

Anerkennung anzustreben ist ja – zumal als Mann – noch sozial akzeptabel und durch Äußerlichkeiten wie zum Beispiel die richtigen Konsumgüter, den perfekten Körper oder die zur Schau gestellte richtige Gesinnung in ihrer oberflächlichen Variante vergleichsweise einfach zu bekommen. Beim Zeigen und Empfangen von Zuneigung sollte ich schon aufpassen, ausgetretene Pfade je nach Zielgruppe (Freund*in, Partner*in, Familie, Unbekannte…) nicht zu verlassen. In meinem Fall meint das, mit Papa nicht zu persönlich zu werden, um befürchtete Ablehnung wegen meines Schwulseins zu vermeiden, oder Freunde lieber zu meiden, statt mit ihnen zu sprechen, wenn ihr Handeln Ärger oder Enttäuschung in mir auslöst. Und Geborgenheit… Was meint das eigentlich? Sich behütet fühlen, also geschützt und gestützt zu werden? Darauf vertrauen zu können, dass der andere mir morgen auch noch gewogen und für mich da ist?

Wenn aber der Wunsch nach Anerkennung, Zuneigung und Geborgenheit so stark ist, und wenn ich schon den Mut aufbringe, Angebote für Beziehungen, die diese Bedürfnisse erfüllen könnten, zu unterbreiten oder anzunehmen… Warum dann fliehen?

Vermutlich gibt es darauf viele Antworten. Ich für meinen Teil kann sagen, dass die wahrgenommene Gefahr der Enttäuschung und Verletzung offenbar schwerer wiegt als der mögliche Gewinn einer befriedigenden Beziehung, die ich, nebenbei gesagt, sowieso vor allem vom Hörensagen und vom Bildschirm kenne. Gedanklich läuft das Ganze beim anfänglichen Kennenlernen ungefähr so ab: Oh, mein Gegenüber scheint mich zu mögen, und ich mag ihn. Gute Chancen eigentlich, dass wir uns näherkommen und ein wohltuender Kontakt entsteht. Wenn ich ihn aber nah an mich heranlasse, erlangt dieser Kontakt auch mehr Potenzial, mich zu verletzen oder zu enttäuschen, was früher oder später passieren wird. Wie in der physischen Welt: Wer 5 Meter von mir entfernt steht, kann mir mit bloßen Händen keine klatschen. Wer 30 Zentimeter vor mir steht kann das schon.

Und so wie für einen Hammer alles wie ein Nagel aussieht, kann jede Beziehung als Gefahrenpotenzial wahrgenommen werden. „Verletzungen muss ich stets vermeiden, denn damit kann ich nicht umgehen“ ist die Devise, die meiner Vorgehensweise zugrunde liegt.

Hinschauen und ausprobieren

Was also tun, wenn mir jemand emotional nahekommt und mir das Angst macht? Weglaufen ist in manchen Situationen ja durchaus angemessen: Manipulative Psychopath*innen oder Zeitgenoss*innen, die mir unangenehm oder schlicht egal sind, will ich weiterhin meiden. Mich erwünschten Kontakten aber aus unklar scheinenden Gründen zu entziehen, reißt schnell Lücken in meine Zufriedenheit und befeuert Gefühle wie Einsamkeit, Wertlosigkeit oder Unzulänglichkeit.

Bleibt als Alternative also noch die Auseinandersetzung. Und das heißt zunächst mal: Hinschauen und spüren, den inneren Blick auf meine Gefühle und Gedanken richten, ohne sie sofort zu bewerten, zu verteufeln oder zu unterdrücken (was oft trotzdem passieren wird, aber nicht schlimm ist). Dabei kann ich z.B. gucken, hinter welcher Rationalisierung – das ist eine „nützliche Begründung“, die die wahren Hintergründe verdeckt und durch angenehmere aber nur scheinbare Gründe ersetzt – vielleicht eine Angst oder Befürchtung von mir schlummert. Ich kann mir Schritt für Schritt vorstellen, wie eine konkrete, mit einer Befürchtung verbundene Situation ablaufen könnte, um dadurch besser abschätzen zu können, wie realistisch diese Befürchtung ist. Da es hierbei auf die durch Erfahrung geschwängerte Vorstellungskraft ankommt, kann etwas aus meiner Vergangenheit aufblitzen. Das ist sehr nützlich, aber Gegenwart ist Gegenwart und ich kann und darf es jetzt auch anders machen als früher. Alternativ kann ich auch mit vertrauten Personen reden und deren Sicht hören.

Wenn ich dann etwas mehr Schimmer davon habe, was draußen passiert und was in mir vorgeht, kann ich auch besser erkennen, welche Spielräume ich eventuell habe. Und wo Spielraum ist, kann ich zum Ausprobieren übergehen, d.h. überlegen, was statt des Weglaufens noch möglich ist. Für mich war die dann aufpoppende Option ebenso banal wie skandalös: Versuchen, mich Axel gegenüber verständlich zu machen. Mich mitteilen, d.h. ihm beschreiben, wie ich eine Situation wahrgenommen habe, was ich dabei gefühlt habe, was ich mir wünsche. Oder Fragen stellen, um ihn besser zu verstehen. Oder sogar die Gefühle zeigen und die Gedanken äußern, die eigentlich „verboten“ sind. Wohlwissend, dass ich mit Ablehnung und Enttäuschung umgehen kann, auch wenn es wehtut.

Dieser letzte Weg ist keine Aufforderung, Empathie abzulegen, wütend und schlagend durch Gegend zu rennen oder andere unerbetene Grenzüberschreitungen zu initiieren. Aber es ist eine Erlaubnis, auch mal das spießige Porzellan zu zertrümmern, das als emotionaler und gedanklicher Ballast in mir schlummert und mich daran hindert, ehrlich mit mir und mit anderen zu sein. Ich bin dafür verantwortlich, mich mit meinen Bedürfnissen zu zeigen, meine Interessen einzubringen oder mich für sie einzusetzen. Dass andere es für mich tun bzw. überhaupt tun können, ist wohl eher die Ausnahme, wenn man berücksichtigt, dass sie keine Gedanken lesen oder in mich hineinschauen können.

Nähe wird aus Mut gemacht

Axel und ich haben viel zusammen gewagt, gelacht, genossen, gelitten und gelernt. Die Beziehung und die Trennung haben geschmerzt und es tut immer noch weh. Ich möchte die Zeit niemals missen und bereue sie nicht. Manchmal denke ich, wir hätten uns mehr trauen sollen. Vielleicht. Versucht haben wir es jedenfalls wieder und wieder.

Was ich mitnehmen und empfehlen kann, ist: Etwas riskieren. Fast immer, wenn ich meinen Stolz oder meine Ängste ein wenig beiseite genommen und statt anzugreifen oder wegzulaufen etwas gesagt oder von mir gezeigt habe, das meine Verletzlichkeit und Bedürftigkeit zeigt, hat es mich und manchmal auch Axel und unsere Beziehung weitergebracht. Undenkbar, ohne den Raum dafür zu bekommen und auch mal dazu angestiftet zu werden. Um mit gutem Beispiel voran zu gehen traue mich jetzt einfach mal: Danke, Axel.

Marko hat es vor einem Jahrzehnt von der Ostsee an die Spree verschlagen. Neben seinem Brotjob in der Verwaltung ist er als aktiver Gewerkschafter und bei der Aidshilfe unterwegs.