Komplexes Strugglen. Männlichkeit als Hindernis und Ressource?

Ein Interview über Erfahrungen mit und Perspektiven auf Männlichkeit(sperfomance) in einer sexistischen, rassistischen und kapitalistischen Welt

Redaktionsteam & Iven

Erschienen in: Ausgabe 01-2021
Rubriken: Interview

Menschen setzen sich auf ganz verschiedenen Wegen und Ebenen mit Männlichkeit auseinander. Wir interviewen in jeder Ausgabe eine Person, die wir inspirierend finden und werfen einen Blick in ihre persönliche Auseinandersetzung.

Achtung: Enthält Beschreibungen rassistischer Situationen

Ulla: Was hat Männlichkeit in deinem Aufwachsen bedeutet?

Iven: Das war widersprüchlich: Meine Mutter kommt aus Deutschland, mein Vater aus Algerien. Meine Eltern haben lange zusammen in Algerien gelebt. Ich bin als Baby nach Deutschland gekommen. Als Braunem Jungen wurde mir von dieser Gesellschaft ständig klar gemacht, niemals normativ männlich sein zu können.

Das hat sich so geäußert, dass ich als Brauner Mensch zum Beispiel schon früh und viel die Botschaft bekommen habe: „Ihr Südländer, ihr könnt ja nicht rational sein. Ihr seid ja immer so emotional.“ Wenn ich mir etwa mit Bourdieu Männlichkeit und die männliche Konkurrenz anschaue, dann ist Ratio, rationales Denken, etwas sehr Wichtiges. Auf der anderen Seite komme ich aus einem links-intellektuellen Haushalt. Bildungspraxen waren uns teilweise total nah. Ich war in der Schule immer sehr gut. Ich konnte also doch was auf diesem Spielfeld der Männlichkeit.

Vielleicht hat das wiederum einen Anteil daran gehabt, bestimmte Männlichkeitsperformances einfach nie als besonders einladend zu sehen - andere aber schon. Statt physischer Auseinandersetzung und das Auto zu tunen eine möglichst große Bibliothek mit krass kritischen Büchern zu haben zum Beispiel. Und dieser Bildungszugang hat mir in Bezug auf mein Standing als Mann geholfen.

In meiner Familie war Anderssein zudem ein Wert. Das war auch eine Antwort auf Deklassierungserfahrungen nach unserer Migration nach Deutschland. Mein Vater als Braune Person konnte nicht in seinem gelernten Job arbeiten, wir haben Rassismus erfahren, aber auch meine Familienpraxen und -kultur haben im Ruhrpott nicht ganz gepasst. Wir sind auf jeden Fall aufgefallen. Das hat meine Familie beantwortet mit: Anderssein ist gut, Anderssein ist etwas Positives. Eben auch Anderssein als die Bier trinkenden, grölenden Bochumer, Anderssein als diese Performance von Männerbünden zwischen jungen Männern. Das waren Teile von Männlichkeit, die lagen mir einfach nicht nah. Das war mir nicht zugänglich. Da gab es einen zu großen Konflikt mit meinen Familienwerten.

Ulla: Wie spielen oder spielten Rassismus und Männlichkeit für dich zusammen?

Iven: Das ist so die Krux, wo ich komplex struggle. Wie verbinden sich meine Rassismuserfahrungen mit meinem Mannsein? Wie verbindet sich das auch mit Klassismus?

Anfang der 90er machen Leute in meinem Umfeld Witze „Was passiert, wenn man Iven anzündet? Dann gibt‘s Heiße Schokolade.“ Direkt im Anschluss an Rostock-Lichtenhagen. Da war mir endgültig klar, ich bin nicht zugehörig. Da kann ich nie vollständig dazugehören.

Bestimmte Praxen, die zu hegemonialer Männlichkeit gehören, fielen mir relativ leicht. Ich habe diese Praxen auch gepflegt, weil sie mir eine gewisse Absicherung gegenüber rassistischer Gewalt gegeben haben. Das hatte natürlich auch mit Klassismus zu tun. Wenn der Ruhrpott-Weiße zu mir kommt und sagt „Geh zurück auf deinen Sandhaufen.“ und ich ihm antworte „Lern du erstmal richtig Deutsch“, dann spielen da mindestens Rassismus, männliche Konkurrenz und Klassismus rein.

Ulla: Heißt das Männlichkeitsperformances sind für dich positiv?

Iven: Nein, aber es fällt mir heute schwerer Dinge nur als schlecht oder nur als defizitär aus der Perspektive von Gleichstellung zu sehen. Natürlich muss und möchte ich die Praxen verändern, die anderen Menschen schaden. Ich kann zugleich aber nicht einfach sagen, dass alles, was als Männlichkeitspraxis verstanden wird, nur schlecht sei und damit etwas, das ich zwangsläufig loswerden muss. Ich erlebe weiterhin Rassismus und da kann mir z.B. ein bestimmtes wissenschaftlich-analytisches Sprechen und Auftreten helfen, weniger angreifbar zu sein. Dieses Auftreten ist gesellschaftlich aber als männlich konnotiert. Es ist ein super komplexes, schwieriges Feld.

Lukas: Was bedeutet eine kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit für dich?

Iven: Ich hab sehr früh angefangen, mich kognitiv mit Feminismus und Geschlechterverhältnissen auseinanderzusetzen. Wir hatten zu Hause Simone de Beauvoir und solche Literatur im Regal stehen. Auch wenn ich das damals nicht gelesen habe, hat das die Familiendiskurse geprägt. Auch in meiner ersten Politisierung, so mit 14-15, war das Thema. Ich bin Ende der 80er in die linke Szene in Westdeutschland gekommen. Und da u.a. in Szenen, die hauptsächlich männerdominiert waren, stark kognitiv-intellektuell orientiert, stark kontemplativ-analytisch. „Wir schauen uns die Gesellschaft an und kritisieren sie.“ Mein Muster war hier zunächst ein klassisch männliches: Es gab in Bezug auf Geschlechterverhältnisse wenig Auseinandersetzung mit uns selbst. Das war bequemer. Aber es passte auch besser zu dem, was wir erlernt hatten. Es hat mir Welten geöffnet, als ich davon weggekommen bin!

Es war ein großer Wendepunkt für mich, als ich angefangen habe, mich nicht nur kognitiv mit Männlichkeit zu befassen.

Ulla: Analyse ist ja total gut und wichtig!

Iven: Ja, unbedingt! Aber in diesem Sinne verknüpft sich Analyse schnell mit der Abwertung des Subjektiven, des Ich, der individuellen Erfahrung und daraus erwachsender Versuche, mehr Freiheit zu erkämpfen. Und das verbinde ich auch mit Männlichkeit. Ich meine eine Position, die sich nicht selbst die Hände schmutzig macht, die nicht selbst tätig wird, die sich nicht selbst als Teils des Problems gesellschaftlicher Diskriminierungsverhältnisse sieht, sondern aus einer behaupteten Position der Objektivität das auf Emanzipation zielende Handeln anderer kritisiert. Für mich ist das insofern relevant, dass es auch etwas über die eigene Sprechposition sagt, nämlich: Du brauchst dafür eine äußerliche und relativ bequeme Position. Auch wenn du alles ganz schlimm findest da draußen. Wir sind aber doch in einer Suchbewegung! Was könnten praktische Wege sein zu besseren gesellschaftlichen Verhältnissen und zu einem besseren Leben? Für diesen Ansatz, da zu sitzen, abzuwarten, was die anderen machen, und die dann abzuwerten, dafür brauchst du eine gewisse Absicherung. Es gibt ein Begründungsgerüst bei Adorno, das viele herangezogen haben, um diese Position theoretisch zu begründen. Ich finde auch, dass es an Stellen legitim und wichtig ist, „nur“ Kritik zu üben. Aber als grundsätzliche Attitüde ist es für mich eng mit Männlichkeit und relativer Sicherheit verknüpft ist.

Ulla: Ich kenne das gut. Problematisch ist für mich, wenn eine bestimmte Haltung dahinter steht: Wenn kritisiert wird, nicht um weiter zu kommen, sondern um meine herausgehobene Position zu markieren.

Ulla: Gab es Auslöser, warum du angefangen hast dich mit Männlichkeit zu befassen?

Iven: Ein wichtiger Auslöser dafür war das wiederholte Misslingen von Nahbeziehungen. Ich habe eine Beschädigung von Beziehungsfähigkeit bemerkt, die dazu führt, dass bestimmte Wünsche an Miteinander und Verbindung immer wieder scheitern und ich dabei andere verletze. Ich hab mir dann die Frage gestellt: Was hat das eigentlich mit mir zu tun?

Irgendwann habe ich gemerkt: meine Männlichkeit steht mir im Weg für gute Beziehungen zu anderen und für eine gute Beziehung zu mir selbst. Internalisierte Männlichkeitsanforderungen verhindern ein gutes Leben und schränken meine Lebensqualität massiv ein. Ein gutes Leben verstehe ich nicht im Sinne von Haus, Auto, Urlaube, sondern ein gutes Leben heißt für mich gute Beziehungen.

Ulla: Wodurch gelingen dir heute Beziehungen besser?

Iven: Ein Beispiel: Es ist eine sehr wichtige Erinnerung an meine Jugend, wie ich mit 13 Jahren realisierte, dass ich nicht mehr weine. Und das empfand ich in dem Alter als riesige Emanzipation. Ich war nicht mehr so angreifbar, nicht mehr so verletzlich in der Schule, in Peergruppenzusammenhängen, in denen ich viel Rassismus erfahre. Mir ist erst viel viel später klar geworden, welcher Verlust das auch war. Meine Emotionalität wahrnehmen und zeigen zu können ist mir wichtig. Ich bin darin besser geworden.

Das heißt, eine Auseinandersetzung mit dem, was Männlichkeit mit mir gemacht hat oder, um das etwas aktiver auszudrücken, was ich aus Männlichkeit mit mir gemacht habe, finde ich total wichtig, um ein besseres Leben mit mir selbst und mit anderen zu haben.

Ein anderer Moment ist eindeutig der, dass ein Kind in mein Leben getreten ist. Ich habe gemerkt, ich möchte diesem Menschen mehr Entscheidungsmöglichkeiten geben, sich selbst zu finden, sich zu entwickeln - hinsichtlich Geschlecht, hinsichtlich eigener Wünsche, Vorlieben und Geschmäcker.

Das heißt für mich, ganz viel über das eigene Befinden zu sprechen, viel und regelmäßig Nähe herzustellen, Berührbarkeit und Verletzlichkeit zu zeigen - immer in dem Versuch mein Kind nicht zu überfordern.

Ich habe mich gefragt, wie mein Sein und mein Verhalten für mein Kind, das sich als männlich versteht, ein Angebot sein kann, eine Alternative zu dem, was da draußen so angeboten wird.

Gleichzeitig kommt hier ein weiteres Ungleichheitsverhältnis rein, zu dem ich arbeite: Adultismus. Da stelle ich mir die Frage, wieviel darf ich meinem Kind eigentlich nahe legen. In dieser hierarchischen Eltern-Kind-Beziehung ist das nicht nur ein Angebot. In so einer Abhängigkeitsbeziehung, in der mir mein Kind nun mal gegenüber steht, hat das zusätzlich eine andere Aufladung.

Ulla: Das heißt, es braucht eine andere Männlichkeit?

Iven: Ja, aber dabei geht es nicht einfach nur um eine andere Performance. Meiner Erfahrung nach ist es immer relevant zu schauen, ob andere Männlichkeitsperformances nicht auch instrumentell sind. In der Pink-and-Silver Zeit in der linken Szene in den 90er Jahren trugen plötzlich die krassesten Macker rosa, weil es in bestimmten linken Szenen in der Aufmerksamkeitskonkurrenz Punkte gab. Aber es war häufig überhaupt kein Hinterfragen von Männlichkeit.

Manche Leute sind auch sehr gut darin, eine empathische, zuhörende Männlichkeit zu performen. Das ist meines Erachtens häufig mit Fragen um Klassismus und Klassenpositionen verknüpft. Oder was nützt mir in welchen beruflichen Feldern? Also, wenn du oben auf der Pyramide von Männlichkeit bist, dann ist Zuhören gar nicht so falsch. Diese Softskills sind dann ganz passend, aber nicht notwendigerweise befreiend.

Ulla: Ok, also nicht nur eine Performance. Wie geht es denn dann als Mann, Dinge anders zu machen?

Iven: Das kann ich nicht so leicht beantworten, aber eine wichtige Frage in meiner Auseinandersetzung mit Männlichkeit ist: Was macht meine Männlichkeit mit mir in Bezug auf meine Verhaltensweisen und in Beziehungen zu anderen?

Wir leben in einer patriarchalen, sexistischen Gesellschaft, in der Zugänge zu Macht, Gewaltrisiken etc. unter anderem nach Geschlecht verteilt sind und in der Männer privilegiert sind. Da ist für mich eine wichtige Frage: Trage ich dazu bei? Wie gehe ich mit anderen um? Wie begegne ich anderen? Welchen Schaden richte ich an? Das ist etwas sehr Schmerzhaftes. Da kann ich im Rückblick auf mein Leben eindeutig sagen, dass ich in Zusammenhang mit meiner Männlichkeit Menschen verletzt und Schaden angerichtet habe aufgrund meiner Internalisierung von gesellschaftlichen Männlichkeitsnormen. Da frage ich mich: Welche Verantwortung habe ich da? Und welche Schritte können daraus jetzt folgen? Auch wenn das nicht aus böser Absicht oder Bosheit passiert ist.

Ich denke zum Beispiel an eine Beziehung, als ich 18 war, wo ich mit einem klassisch männlichen Emotionsabwehr-Repertoire eindeutig wichtige Bedürfnisse meiner Partnerin einfach abgebügelt habe. Was heißt das heute? Nicht nur für mein Verhalten jetzt und in Zukunft, sondern auch gegenüber jenem Menschen in meiner Vergangenheit?

Mir ist ein „make amends“ – ich habe keinen guten deutschen Begriff dafür – wichtig. Aber wie kann ich Menschen ansprechen mit denen ich seit 5-10 Jahren nicht in Kontakt bin? Kann ich die ungefragt ansprechen und denen sagen „Hey, ich bin’s, ich habe dir geschadet in unserer Begegnung, ich würde da gerne jetzt Verantwortung übernehmen.“? Wie gehe ich also damit um, dass ich Schaden angerichtet habe?

Und wie gesagt: Sich tatsächlich anders verhalten. Angreifbar machen. Nahbar sein. Verletzlich sein.

Lukas: Abschließend die Frage nach der Utopie: wo soll es hin gehen? Im Geschlechterverhältnis, in Bezug auf Männlichkeit?

Iven: Solange wir uns gegenseitig ständig diese Geschlechterlabel aufdrücken, glaube ich nicht wirklich an eine positive Männlichkeit. Vielleicht glaube ich an ein positives Mensch-sein, aber an nichts, was ich mit diesem Ordnungssystem männlich-weiblich verbinde.

So richtig utopisch wäre, wenn wir uns komplett gelöst haben von der Aufladung von biologischen Ausformungen unseres Körpers. Dann hätte es wahrscheinlich auch keine Relevanz mehr.

Und ansonsten freue ich mich trotzdem immer auch über Menschen, die als Mann gelesen werden, die einen lebendigen, anderen Umgang damit anbieten und zeigen.

Iven arbeitet an einer besseren Welt und selbständig im Bereich der Prozessbegleitung und der Erwachsenenbildung zu Diskriminierungsverhältnissen, unter anderem mit den Schwerpunkten Rassismus, Sexismus, Adultismus, Geschlechterverhältnisse und Intersektionalität.