Die Gruppe verlassen

Eine Kurzgeschichte über Männlichkeit, Freundschaft, Männerbünde und Sexismus

Christian Dittloff

Erschienen in: Ausgabe 01-2021
Rubriken: Literarisches

In jeder Ausgabe veröffentlichen wir literarische Texte, die neben den theoretischen und biografischen Texten, eine nochmal andere Auseinandersetzung mit Männlichkeit ermöglichen sollen. Die uns zum Denken anregen und die uns berühren. Wir hoffen mit dieser Rubrik einen weiteren Zugang zu schaffen, um sich mit den Geschlechterverhältnissen und ihren ganz alltäglichen Zwickmühlen zu befassen.

Vorwort des Redaktionsteams

Um den folgenden Text, die Kurzgeschichte „Die Gruppe verlassen?“, gab es schon im Vorfeld einige Kontroversen. Eine Kritik daran war, Täter könnten sich hier leicht identifizieren. Er habe dadurch das Potential, männerbündische Strukturen zu verstärken.

Warum finden wir den Text aber gut und wichtig?

Zunächst Achtung: Der Text enthält Beschreibungen sexistischer und misogyner Handlungen und sexualisierter Gewalt.

Er befasst sich mit der Frage, wie die Erzählfigur – ein cis Mann – mit dem Sexismus seiner cis-männlichen Freunde und dem eigenen Sexismus umgehen soll. Aus einer feministischen Perspektive gibt es darauf klare Antworten: In die Konfrontation gehen, Sexismus nicht unwidersprochen lassen.

Aus der individuellen Perspektive sind die meisten Situationen aber komplexer, die Gefühle ambivalent. Nicht, weil der Sexismus nicht erkannt wird sondern weil andere Themen auch eine Rolle spielen. Die Sorge, die Freunde zu verlieren beispielsweise. Oder auch die Scham über die eigenen sexistischen Handlungen, die es (vermeintlich) schwieriger macht, die anderen auf ihre sexistische Kackscheiße hinzuweisen. Der Text beschreibt keine idealtypische Auseinandersetzung im Sinne eines How-Tos, sondern untersucht die Ambivalenzen und Zweifel des Erzählers.

Wir vom Redaktionsteam glauben, dass eine tatsächliche Beschäftigung mit Sexismus bedeutet, die eigenen Täteranteile anzusehen. Mart Busche drückt es im Podcast „Alles für alle! - im Dissens mit den herrschenden Geschlechterverhältnissen“ so aus:

„Es gibt einen ganz starken Anspruch, dass feministische Männer oder Männer, die sich mit Männlichkeit auseinandersetzen wollen und mit ihren Privilegien, dass die die Tätergefilde meiden. […] Es müsste ein eklatanter Bestandteil dieser Auseinandersetzung mit Privilegien und Positionierung sein, sich die eigenen Übergriffigkeiten anzugucken. […] Nicht nur zu sagen, die Auseinandersetzung ist gut und wichtig und wir wollen das schöne Leben. Das heißt ja auch verdammt noch mal was! Es heißt in die eigenen scheiß Abgründe zu gucken!“

Eine reine moralische Abwehr im Sinne von „Sexismus darf nicht passieren“ reicht nicht aus, um eigenes sexistisches Verhalten zu überwinden. Einen Anstoß in die eigenen Abgründe zu blicken soll die folgende Kurzgeschichte bieten. Und sie soll einen Anstoß bieten, sich zu fragen: Was heißt hier Verantwortung übernehmen? Für das eigene Handeln (auch in der Vergangenheit) einerseits, für das sexistische Handeln der Peers andererseits?

Disclaimer: Der folgende Text ist Fiktion. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen oder Gegebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Die Beschreibungen sind zwar nicht real, aber sie sind realistisch in Hinblick auf die Allgegenwärtigkeit toxisch-männlicher Sozialisation.

Die Gruppe verlassen

Ich kreise mit dem Daumen über den rot leuchtenden Hinweis Gruppe verlassen – soll ich austreten? Was werden die anderen sagen, denke ich und lege das Handy auf die Arbeitsplatte in der Küche. Während ich die Petersilienwurzeln, Möhren und Kartoffeln für den Eintopf in Scheiben schneide, überlege ich, was passiert, wenn ich einfach nicht mehr mitmache, mich aus dem wir lösen würde, um ein ihr zurückzulassen. Würden die Jungs es überhaupt bemerken? Würden sie es als Kritik an ihrem Verhalten sehen? Vielleicht würde einer schreiben: Ach, der schon wieder mit seiner Moral. Der glaubt, er sei besser als wir. Und jemand würde beipflichten: ja, pussywhipped der Typ!

Vor ein paar Tagen war es mir zu viel geworden. Es war Muttertag. Ich hatte mir gerade einen Kaffee gemacht, wollte mich an den Schreibtisch setzen, um zu arbeiten, als ich nebenbei auf mein stummgeschaltetes Smartphone schaute und eine Foto-Nachricht in die Gruppe einging: durcheinanderwirbelnde Spermien und darüber der Spruch: Danke, Mama, dass du mich nicht geschluckt hast! Ich hatte auch mal über Deine-Mutter-Witze gelacht, klar, aber in letzter Zeit baute meine Mutter gesundheitlich ab und ich fragte mich, wie viel Zeit uns noch blieb.

Die WhatsApp Gruppe JGA-Swinemünde war vor neun Jahren aus dem Chat zur Organisation eines Junggesellenabschieds hervorgegangen. Kurz bevor mein Freund Jonas seine langjährige Freundin Melli geheiratet hatte. Sechs Männer, allesamt alte Freunde. Drei von uns waren gemeinsam zur Schule und in den Fußballverein gegangen, einen hatten wir an der Uni kennengelernt, ein weiterer hatte plötzlich dazugehört, und der Bruder der Braut war auch mit dabei.

In diese Gruppe schickten wir uns noch immer Nachrichten, die dem Spirit des damaligen Junggesellenabschieds verpflichtet waren. Sie berührten die Schnittmenge aus vermeintlichen Gemeinsamkeiten, die uns geblieben waren: Musik von früher, Alkohol, Frauen. Dem Video einer längst aufgelösten Punkband mit den Worten: Hört mal, der Song knallt noch immer!, folgten Memes mit überdimensionierten Biergläsern und Hinweisen wie Irgendwo auf der Welt ist es immer 16 Uhr oder das Bild eines Couples: Er döst noch, während sie ihn liebevoll anlächelt, aus ihrem Mund eine Sprechblase: Ich kann es kaum erwarten, dass er aufwacht und ich ohne Grund einen Streit beginnen kann. Die Partnerin, die uns in einen sinnlosen Streit verwickelte, glaubten wir wirklich daran? Ich selbst hatte die Erfahrung nicht gemacht und doch klangen die Worte in mir an, denn ich hatte durchaus mit Freunden über ähnliche Situationen gesprochen und ein bisschen über unsere Freundinnen gelästert, Dampf abgelassen.

Teil der Gruppe waren natürlich der Junggeselle Jonas, vor dessen nihilistischer Attitüde sich früher in der Schule so viele gefürchtet hatten und der nun in einem Start-up für Achtsamkeitsprodukte Geschäftsführer war und mit Melli im VW-Bus durch Europa fuhr. Da war Flo, der im Suff früher gerne bierselige Deutschpunk-Songs mitgegrölt hatte und der heute als Anwalt arbeitete. Da war Sebastian, der Grafiker, der noch immer monatlich mit seinen neuen Eroberungen prahlte, und da war Ben, der einmal mit einer Frau Schluss gemacht hatte, weil ihr Haare an der falschen Stelle wuchsen; heute war er Lehrer und hatte mit einer Kollegin zwei Kinder. Und zuletzt war da Mellis Bruder Paul, von dem ich kaum etwas wusste, nur, dass er Rekordhalter seiner Kleinstadt im Trichtersaufen war.

Na gut, und ich gehörte auch dazu; derzeit ringe ich mit einer investigativen Polit-Reportage und lenke mich mit Kochen ab, bevor ich meinen Sohn aus der Kita abhole. Ich verbringe viel zu viel Zeit in der Küche und gebe mir hier auf eine Art und Weise Mühe, die ich besser in die Arbeit investieren sollte. Ich weiß, ich habe die anderen im Unterschied von damals und heute beschrieben. In Hinblick auf mich selbst finde ich das schwierig, denn ich betrachte meine Entwicklung als Kontinuität.

Der Junggesellenabschied war nicht als Glanzleistung in die Geschichte eingegangen. Ich bin da nicht unschuldig, immerhin war auch ich ein Teil der Gruppe – gewesen. Im Nachhinein weiß ich aber nicht mehr, wie es zu all dem hatte kommen können. Mir war es schon damals vorgekommen, als hätten wir etwas nachgeahmt, das wir zwar einmal gelernt hatten, doch längst überwunden glaubten. Wir waren uns damals schon einig gewesen, das Konzept hinter dem blöden Namen JGA eigentlich abzulehnen. Wir wollten nicht zu dieser Sorte Mann gezählt werden, hatten uns nach eigenem Empfinden längst von diesem Männerbild verabschiedet, wir lachten sogar über all die aggressiven Trottel und Trolle, die Muskeltypen und Gangster, wir hatten auch überhaupt nicht mehr nur männliche Freundschaften, sondern waren längst offen und empathisch im Kontakt mit uns, unseren Körpern, Gefühlen und der Welt.

Doch irgendwie hatte es sich dann doch ergeben: ein saufender, pöbelnder Jungstrupp im Zug von Berlin an die Ostseeküste. Lautstarke Sprüche, die man erst losließ, wenn man betrunken und die Gruppe der Zustimmenden groß genug war. Wenn man sich sicher fühlte. Mein Blick traf den einer älteren Frau. Sie schürzte die Lippen. Ich zog die Augenbrauen hoch, lächelte hilflos und zuckte mit den Schultern, als wüsste ich auch nicht, woran das lag. Ich wollte nicht, dass sie schlecht von mir dachte. Mir wurde heiß. Das Gefühl wurde erträglicher, als ich das Verhalten der anderen innerlich verurteilte.

Auf Usedom angekommen, kippten wir aus dem Zug. Basti öffnete seine Hose noch im Gehen und pinkelte an den erstbesten Baum. Er grinste Paul verschwörerisch an: Erstmal Revier markieren! Im Supermarkt liefen wir mit breitbeiniger Geste durch die Gänge, bewarfen uns mit Kartoffeln, füllten den Einkaufswagen mit Getränken, Fleisch, Chips – und den Zutaten für einen Salat, den Jonas‘ Frau ihm empfohlen hatte: Mit Fenchel und Orange und Kapern. Der schmeckt wirklich mega gut, Jungs, sagte er entschuldigend. Ich wollte mich schon darüber lustig machen, Grünzeug, wie verweichlicht, als jemand anderes einlenkte und sagte, dass der Salat wirklich lecker sei. Den Einkaufswagen nahmen wir einfach weiter mit, Jonas setzte sich auf die Einkäufe, sodass eine Chipstüte platzte und der Inhalt herausrieselte. In der Bungalowsiedlung angekommen, blieb er im Wagen, den wir abwechselnd wie eine Kutsche über das Gelände schoben. Schließlich war es ja Jonas‘ Wochenende – auf seinem Gesicht ein seliges Lächeln. Etwas Königsbehandlung ist doch wohl in Ordnung, sagte er, oder ist das zu viel Patriarchat für euch Muschis? Dann sackte sein Kopf nach hinten und seine Augen schlossen sich. Wir anderen richteten uns in unseren Häusern ein und bauten den Grill unter einem Holzpavillon mit Feuerstelle auf, als es zu nieseln begann.

Später saßen wir im Kreis, bissen in Grillfleisch und tranken Bier. Ist schon gut, sagte jemand, dass wir uns mittlerweile besseres Fleisch leisten können und nicht mehr nur Dreck in uns hineinschaufeln. Einer hatte den Zufalls-Timer auf dem Telefon eingestellt und den möglichen Zeitrahmen zwischen einer und dreißig Minuten gewählt. Wenn es klingelte, hatten wir alle einen Schnaps zu trinken. Wir erzählten uns Geschichten von früher: Wie Jonas auf einem Festival einmal in einen Becher geschissen und ihn in hohem Bogen über den Zeltplatz geworfen hatte. Mit welchen Frauen wir geschlafen hatten und mit wie vielen. Dann berechneten wir den Gruppendurchschnitt an Sexualpartnerinnen, der besonders von Basti auf die vierzehn hochgezogen wurde. Jonas‘ Schwager Paul schaute nur kurz weg, als der erzählte, dass er neulich einmal Analsex mit seiner Zukünftigen gehabt habe und beichtete, dass er ihr einmal untreu gewesen sei. Ein unbedeutender Aufriss in einer Absturzbar. Das bleibt geheim, sagte Ben, und jemand anderes benutzte das Wort Bro-Code. Jonas fragte, ob seine Freunde nicht auch noch eine Stripperin für ihn gebucht hätten, doch ich erklärte, dass es das auf Usedom leider nicht gebe. Das Wort leider betonte ich so, dass meine Position ambivalent blieb und tatsächlich wusste ich gar nicht so genau, was ich dachte. Ein paar Minuten später allerdings hielt Paul uns sein Smartphone mit Rechercheergebnissen unter die Nase: Es gab sehr wohl Stripperinnen und Prostituierte. Doch man sage übrigens gar nicht Prostituierte, sondern Sex-Arbeiterinnen, erklärte Paul, damit die Frauen nicht stigmatisiert würden.

Es war noch hell, als wir an den Strand gingen. Wir sprangen vom Geländer des Holzstegs, der über die Dünen führte. Einige drehten sich im Sprung, machten Figuren, kleine Salti. Wir brachen die Gitter aus einigen der Strandkörbe und setzten uns hinein. Ich spürte den Rausch deutlich und doppeldeutig. In der Gruppe fühlte ich mich präsent und selbstbewusst. Wir sind Männer, dachte ich, von denen eine gewisse Kraft ausgeht. Auf einmal zog sich Ben aus, dann Jonas, und dann auch ich, und dann waren wir alle nackt. Wir schlugen uns gegenseitig auf den Hintern und juchzten. Wir kletterten auf die Strandkörbe, die Bierflaschen wie Trophäen in der Hand, posierten wie in Titanic. Wir wickelten uns angespülte Algen um Penis und Hodensack. Eine Familie lief vorbei. Die Eltern zogen ihre Kinder schnell weiter.

Warum haben wir das gemacht, frage ich mich heute, und denke weiter darüber nach, die WhatsApp-Gruppe zu verlassen. Die Jungs sind mir wichtig, ich will sie nicht missen. Man braucht Freunde, die einen schon lange kennen, um sich an die Jugend zu erinnern, zu wissen, wo man herkommt. Ich muss an unsere Schulzeit denken. Nach dem Sportunterricht hat sich kaum jemand zu duschen getraut. Fast alle schienen sich vor der Nacktheit zu fürchten. Nur zwei oder drei von den Jungs versuchten beinahe nach jeder Stunde, bis in die Mädchenumkleide vorzudringen, um dort blankzuziehen, wie sie behaupteten. Ich erinnere mich noch an das Klopfsignal: einmal lang, dreimal kurz, einmal lang. Ich selbst war nie mit in der Mädchenumkleide und konnte mir nicht erklären, was den Jungs in diesen Situationen durch den Kopf ging. Weder in der Umkleide noch am Strand von Usedom. Nach welchem Bewertungssystem mochte das ein gutes Verhalten sein? Was war die Belohnung, was der persönliche Gewinn? Und warum war das alles nicht auch umkehrbar? Die Jungsumkleide war nie verschlossen. Auch in der Schulleitung ging man wohl davon aus, dass es da einen Unterschied gab. Aber warum konnte kein Mädchen in die Umkleidekabine der Jungs gehen und sich nackt zeigen? Was wäre dann passiert? Hätte sie uns beschämen können, bedrängen? Und was hätten wir dann getan? Ich erinnere mich an eine Feststellung aus einem Buch, das meine Freundin mir vor Kurzem geschenkt hat: Nicht der entblößte Körper wird gezeigt, sondern die Fähigkeit zu kontrollieren, die Möglichkeit, alles, was sich gehört, außer Kraft zu setzen, die Möglichkeit, zu dominieren, zu demütigen, nach Belieben, wann immer es einem passt. Umso besser also, wenn es nicht zur Situation passt. Als wir da nackt über den Strand gelaufen waren, hatte ich mich unschuldig gefühlt. Als sei ich durch meine Nacktheit auch verletzlich gewesen. Doch im Nachhinein frage ich mich: Wollten wir der Welt unsere vermeintliche Macht vorführen? Taten wir es, weil wir es konnten? Waren wir: Dickpicks auf zwei Beinen?

Ich überfliege noch einmal die Nachrichten, während der Eintopf vor sich hin köchelt. Etwa im Wochentakt melden sich die Mitglieder der WhatsApp-Gruppe zu Wort. Ich sehe das Foto eines Mannes, der sein Gesicht auf die Vulva einer Frau drückt und zwischen ihren Beinen liegend in die Kamera schaut, die dunkle Intimbehaarung dient ihm als Oberlippenbart; darunter: Er ist wieder da. In einem Rapsong heißt es: Ich will keine Frauen, ich will Hoes.Oder: Der Ablauf eines idealen Tages für Männer: Blowjobs, Bier, Fußballgucken. Und für Frauen: Streiten, shoppen, streicheln. Hunderte dieser Beiträge, Fotos, Videos. Viele Zwinkersmileys. Ironie verspricht nur dem Sender Schutz, denke ich, es ändert nicht das Gesagte.

Und dazwischen Kinderfotos: Guck mal, meine Kleine. Und alle: Wie süß, Glückwunsch Ben. Oder Jonas Sohn beim Fußball oder mit einer leeren Bierflasche in der Hand: Ganz der Papa, haha. Ein Foto am Hochzeitstag: Alles Gute für euch, ihr seid ein Traumpaar!, Deine Frau ist so schön wie klug, Liebe ist das Wichtigste! Herzaugensmileys. Und als Flo verlassen wurde: Vergiss die Bitch, endlich wieder Sex, endlich wieder frei. Ab auf die Erstsemesterparty, ich beneide dich, Liebe ist ein soziales Konstrukt, fick dich frei! Wie passt das in nur eine Realität, denke ich, als ich die Nachrichten so geballt betrachte. Wie können Liebe und Respekt neben der Verachtung bestehen? Was von beiden ist die Wahrheit, was die Performance?

Dann finde ich ein Bild, das ich selbst vor über drei Jahren gepostet und längst vergessen hatte. Mir wird heiß, eine Klammer legt sich um mein Herz. Ich lege das Telefon beiseite und erinnere mich.

Es war Heiligabend, in einer Disko, die wir früher oft aufgesucht haben. Ich war allein. Hatte versucht, auf der Tanzfläche mit Frauen in Kontakt zu kommen, obwohl ich ja eigentlich in einer Beziehung steckte. Als ich merkte, dass da nichts ging und ich mich im Grunde eh zu alt für das feierwütige Publikum fühlte, beschloss ich, bald zu gehen. Es waren halt alle in ihre Altersklasse aufgeteilt, in ihren jeweiligen Anerkennungsraum von früher, und viele in meinem Alter hatten schon Familie. Doch eine halbe Stunde später stand ich noch immer betrunken am Rand und nippte an einem Gin Tonic. Vor mir tanzte eine Frau, nicht viel jünger als ich. Sie war groß und athletisch. Sie trug einen engen Einteiler in weihnachtsrot. Die braunen Locken hingen ihr bis über die Schultern. Sie bewegte ihre Hüften, reckte die Arme empor und lächelte mich an, glaubte ich, bevor sie sich wieder den anderen ihrer Gruppe zuwandte. Mein Blick folgte den Bewegungen ihres Hinterns, ich merkte, wie sehr sie mich erregte. Ich zog das Telefon aus der Tasche und öffnete die Kamera-App. War der Blitz ausgeschaltet? Das war wichtig, wie peinlich, wenn jemand es bemerken würde. Dann tat ich so, als ob ich eine Nachricht schrieb, und schoss ein paar heimliche Fotos von der Frau im roten Einteiler. Mir war, als bräuchte ich das, als müsste ich wenigstens ihr Bild mitnehmen.

Auf dem Nachhauseweg torkelte ich durch die alte Nachbarschaft, sah die vertrauten Bänke, Bäume, Straßenschilder, da war sogar das Haus von Jonas’ Eltern und da der Spielplatz, auf dem wir uns gegenseitig mit Steinschleudern beschossen hatten.

Nach einem eiligen Zähneputzen zog ich mich aus. Die Klamotten rochen nach dem Zeug der Nebelmaschine, und sogar der Geruch des Abendessens mit meinen Eltern hing noch darin, obwohl das bereits viele Stunden her war. Im Bett öffnete ich die Foto-App und schaute mir die Bilder an. Ich wählte eines von der Frau mit den Locken aus und zoomte mit zwei Fingern ihren Po heran. Ich fuhr mit der Hand in meine Hose und rieb an meinem Penis herum, der Blick starr auf das Telefon gerichtet. Nach wenigen Minuten aber gab ich es auf, ich war zu betrunken. Stattdessen öffnete ich den JGA-Chat und lud das Bild der Frau hoch. Darunter schrieb ich: Dieser Weihnachtsengel war bestimmt nicht brav und hat meine Rute verdient ;) Hoe, Hoe, Hoe aus der Heimat.

Während ich noch auf die Reaktionen der anderen wartete, schlief ich ein.

Ich nehme das Handy wieder in die Hand, öffne den Chat. Kreise mit dem Daumen über den rot leuchtenden Hinweis Gruppe verlassen – soll ich?

Das Zitat stammt aus Carolin Emcke „Ja heißt ja und…“ Frankfurt a.M. 2019, S.15

*Christian Dittloff (1983 in Hamburg) arbeitet als Autor und Journalist. 2018 erschien sein Debütroman “Das Weiße Schloss" über das Outsourcing von Elternschaft. Momentan beschäftigt er sich mit autofiktionalen Literaturformaten in Hinblick auf die Themen Trauer, Feminismus und Toxische Männlichkeit. Christian Dittloff lebt in Berlin.