Das Scheitern organisieren

Theorie zu hegemonialer Männlichkeit und dem Versuch sie scheitern zu lassen.

Mart Busche, Olaf Stuve

Erschienen in: Ausgabe 02-2022
Rubriken: Theorie

Das Scheitern organisieren

Das Scheitern organisieren.

Das Thema Männlichkeit(en) erfährt seit geraumer Weile zunehmende Aufmerksamkeit, nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in politischen und lifestylebezogenen Bereichen. Dieser Umstand ist voll zu begrüßen, wird darin doch deutlich, dass Männlichkeit ihren Zustand des scheinbar fraglos Gegebenen verloren hat. Stattdessen ist Männlichkeit im Bereich von Infragestellungen, Verhandlungen und Gestaltbarkeit angekommen. Dieses Magazin ist Teil davon und wir wollen uns in einem Theoriecrashkurs anschauen, was das bedeuten kann. Dazu ziehen wir ein Konzept heran, dass im englischsprachigen Raum von Raewyn Connell und einigen Kollegen für die Soziologie entwickelt wurde und unter dem Namen „hegemoniale Männlichkeit“ bekannt wurde. Bis heute ist es ein zentrales Konzept, um Männlichkeiten in dynamischen und pluralisierten Geschlechterverhältnissen im neoliberalen Kapitalismus zu analysieren. Mit ihm lassen sich die zuweilen paradox wirkenden Spannungsverhältnisse zwischen Beharren und Veränderungen von Männlichkeiten gut begreifen.

Zuerst einmal handelt es sich bei dem Konzept der hegemonialen Männlichkeit nicht allein um eine Männlichkeitstheorie, die die Funktionsweisen von Männlichkeit erklärt. Vielmehr ist es eine Geschlechtertheorie, d.h., es geht um Fragen von geschlechtlichen Anordnungen insgesamt; Connell spricht von Konfigurationen und (Macht)Verhältnissen, die nicht auf Männlichkeit(en) beschränkt sind. Das Konzept ist an feministischer Forschung, Politik und Theoriebildung orientiert. Es nimmt die Hierarchie zwischen Männern und Frauen als die zentrale Machtachse zum Ausgangspunkt und ergänzt diese durch den Blick auf Über- und Unterordnungsverhältnisse zwischen Männern. Darin werden die hegemoniale Männlichkeit und andere Formen von Männlichkeiten in jeweils spezifischen Relationen zueinander untersucht. Connell formuliert folgenden Relationen: „Hegemonie, Dominanz/Unterordnung und Komplizenschaft einerseits, Marginalisierung/Ermächtigung andererseits“ (Connell 1999, S. 102). Die untenstehende Grafik soll die Relationen von Positionierungen veranschaulichen. Einzelne männliche Personen nehmen darin keine festgelegten Plätze ein, sondern können vielmehr ihre Positionierungen verändern und Statuswechsel vornehmen. Die Anordnung hegemonialer Männlichkeit(en) bleibt dabei dennoch bestehen. So werden einer hegemonialen Form von Männlichkeit andere Männlichkeiten untergeordnet, was in erster Linie durch das Absprechen von ‚richtiger‘ Männlichkeit und Prozesse der negativ konnotierten Zuschreibung von Weiblichkeit geschieht.[1] Aus einer untergeordneten Männlichkeitsposition heraus ist die Infragestellung hegemonialer Männlichkeit und eine Ermächtigung im Sinne der Inanspruchnahme einer anerkannten männlichen Subjektivität recht schwierig. Das bedeutet nicht, dass Versuche in diese Richtung nicht dennoch stattfinden. Als eine weit verbreitete Form von Männlichkeit positioniert sich die komplizenhafte Männlichkeit loyal gegenüber dem Hegemonialen und stützt bzw. sichert dieses ab. Hingegen stellt sich das Verhältnis von hegemonialer und marginalisierter Männlichkeit als ein dauerhaftes Ringen zwischen Ausgrenzung und Kampf um Selbstermächtigung dar. Entsprechend finden sich marginalisierte Männlichkeiten auch in allen Positionen und bringen die meiste Bewegung in die Binnenrelationaltät von Männlichkeit.

Zugrunde liegt die Frage, warum sich bestimmte Männlichkeitsmodelle als die dominanten durchsetzen, obwohl sie gar nicht allen Menschen guttun. Das ist, was ‚Hegemonie‘ meint: Eine Herrschaftsordnung setzt sich durch und auch die Unterdrückten stimmen dieser – willentlich und unwillentlich – zu und stabilisieren sie. Sie glauben, dass es auch gut so ist und sei es nur deshalb, weil sie denken, alles andere wäre schlechter. Zum Beispiel weil die Überzeugung vorherrscht, unter anderen Vorzeichen trete Unordnung, Schwächung, Unproduktivität usw. ein. Diese Zustimmung zu hegemonialen Formen von Männlichkeit findet übergreifend über längere Zeitperioden und räumliche Kontexte statt. Die Stabilität resultiert nicht zuletzt daraus, dass hegemoniale Männlichkeiten nicht primär auf direkte Gewalt zurückgreifen müssen, um die Herrschaft abzusichern, sondern mit der eben beschriebenen Zustimmung einer Mehrheit rechnen können. Um die Zustimmung einer Mehrheit immer wieder neu zu erhalten, sind hegemoniale Männlichkeitsmuster in der Lage sich zu erneuern. Hegemoniale Männlichkeiten – so könnte mensch sagen – bilden sich ständig fort und integrieren vormals abgewertete Aspekte, die mit Weiblichkeit, migrantisierten oder schwulen Männlichkeiten als ursprünglichen Prototypen untergeordneter Männlichkeiten assoziiert sind (z. B. im Bereich Körperpflege, Mode-Accessoires, Ausdrucksweisen und Emotionen). Hegemoniale Männlichkeiten im neoliberalen Kapitalismus werden demzufolge zunehmend weniger binär und heteronormativ hergestellt, sondern erscheinen flexibler und verlieren damit ihre eindeutigen Konturen.

Zugrunde liegt dieser Theorie auch eine zweite Frage, nämlich danach, wie Veränderung stattfindet. Denn die Geschlechterverhältnisse sind nicht stabil. Veränderungen und Widersprüchlichkeiten müssen als konstitutive Bestandteile davon begriffen werden. Geschlechterordnungen geraten ständig in Krisen. Zum Beispiel weil ihre Hierarchisierungen, die Unterordnungen von Frauen und anderen Geschlechtern kritisch hinterfragt und bekämpft werden; oder weil bestimmte Männlichkeitsmuster für die Arbeitsverhältnisse in der klassischen Industriearbeit in nationalstaatlich organisiertem Kapitalismus angemessen gewesen waren, in globalisierten, digitalisierten und flexibilisierten Kapitalismus jedoch dysfunktional geworden sind, das heißt, sie sind mehr hinderlich als hilfreich; oder weil eine alte Form vorherrschender Männlichkeit durch andere, modernisiertere Formen von Männlichkeiten in ihrer Funktion als Orientierungsnorm in Frage gestellt werden.

Wir erleben aktuell viele Formen von Infragestellungen dessen, was lange Zeit hinsichtlich Männlichkeit und ihrer Position in den gesellschaftlichen Verhältnissen als fraglos gegeben galt. In solchen Krisensituationen entstehen sowohl neue Zwänge als auch Handlungsoptionen.

Erleidet etwa das Patriarchat einen Legitimierungsverlust, z.B. indem ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen für gleiche Arbeit juristisch als ungerecht erklärt wird oder von einem Staat mit der Einführung des Personenstands ‚divers‘ eingeräumt wird, dass die bisherige Annahme von nur zwei Geschlechtern falsch war, dann können wir sehen, dass bestimmte Akteur*innen und Strukturen darauf reagieren. Während dies für manche Personen(gruppen) neue Räume öffnet, feministische und queere Anliegen stärker einzuklagen und diversere Formen von Männlichkeit zu leben, reagieren andere - z. B. die hier im Heft von Andreas Hechler beschriebenen ViVos - mit aggressiven Drohgebärden der Abwehr von Veränderungen und einer retronormativen Berufung auf vermeintlich traditionelle Geschlechterarrangements. In ihrer Analyse zeichnet Connell anhand unterschiedlicher westlicher industriegesellschaftlicher und institutioneller Schauplätze (progressiv und regressiv wirkende sowie politisch begründete) kollektive Anstrengungen nach, Männlichkeit als hegemoniales Modell in den Geschlechterverhältnissen zu konstruieren. Dazu schlägt sie vier zentrale Bereiche vor, in denen sich geschlechtlich-intersektionale Anordnungen gut untersuchen lassen (die wir hier zur Veranschaulichung auf die Produktion eines männlichkeitskritischen Magazins zu übertragen versucht haben):

  • Gesellschaftliche Macht: Wer hat und erhält Autorität, Kontrolle und stellt Mehrheiten? Wer muss sich öffentlicher Konkurrenz, Kritik oder Kriminalisierung aussetzen? [Wer darf hier (nicht) schreiben und wer wird dabei (nicht) als Autorität herangezogen? Welche Perspektiven erhalten mehr Gewicht als andere? Wer wird (nicht) sichtbar und ist dabei (nicht) geschützt vor Anfeindungen? Wie kommt es dazu?]
  • Produktive Macht: Wer profitiert von wessen (un)bezahlter Arbeit, wer kontrolliert Finanzen und Produktionsmittel, wer kann die eigene Zukunft sicher planen? Wer hat die risikoreicheren Jobs? [Wer liest hier Korrektur und layoutet und wird dafür (nicht) abgefeiert? Wer riskiert die eigene Sprechposition im Diskurs, wer bleibt innerhalb der eigenen Komfortzone? Wie kommt es dazu?]
  • Beziehungsmacht: Wer profitiert (einseitig) von wessen Sorgearbeit und Bindungsorientierungen? Wer kann und darf welche Gefühle und Verletzbarkeiten ausdrücken? [Wer ist in der Position, aus den zahlreichen in Diskussionen geäußerten Gedanken und Erfahrungen der Freund*innen und auf der Basis ihrer emotionalen Arbeit einen Artikel zu machen? Wie kommt es dazu?]
  • Symbolmacht: Wer hat kulturelle Definitionsmacht? Wer ist wo unterrepräsentiert? [Welche Gewaltverhältnisse werden (nicht) adressiert? Wessen Geschichte werden (nicht) erzählt? Wer lackiert sich hier die Fingernägel als Marker für reflektiertes Mannsein, sieht aber vom Tragen eines Rockes ab? Wer kann sich solche symbolischen Marker leisten, wer nicht? Wie kommt es dazu?]

Dabei ist es wichtig, Männlichkeit und Männer nicht zu verwechseln. Männlichkeit repräsentiert keinen spezifischen Typus Mann, sondern umschreibt die Art und Weise, wie die Geschlechtsposition ‚männlich‘ durch diskursive und in sozialen Praktiken konstruiert wird. Dennoch kann das Konzept nicht nur für soziologische Analysen, sondern auch für Alltagsanalysen von Geschlechterpraktiken sinnvoll sein, da uns die Entwickler*innen der Hegemonialen-Männlichkeitstheorie zwei wichtige Fragen mit an die Hand geben: Wird hier gerade eine Hierarchie gegenüber Nicht-Männern hergestellt? Und: Werden andere Männer gerade untergeordnet? Oder etwas abstrakter: Trägt die gerade von Dir beobachtete Handlungspraxis dazu bei, die Dominanz von Männlichkeit(en) und sozio-ökonomischer Ungleichheitsverhältnisse herzustellen, aufrechtzuerhalten oder zukunftsfähig zu machen – und wenn ja, wie? Daraufhin lassen sich auch eigene Praktiken untersuchen und es kann darüber nachgedacht werden, was Exit-Optionen aus einer hierarchischen Geschlechterordnung sein und wie diese organisiert werden können. Denn wie Raewyn Connell und ihr Kollege James Messerschmidt 2005 ganz richtig bemerkt haben: Die Hegemonie kann auch scheitern.

Wenn wir darüber nachdenken, wie das Scheitern der hierarchischen Geschlechterordnung zu organisieren ist, kann sich die theoretische Konzeption zur hegemonialen Männlichkeit als sehr hilfreich erweisen. Mit ihr können Geschlechterverhältnisse und Männlichkeiten in ihren paradoxen Gleichzeitigkeiten von Wandel und Persistenz verstanden werden. Mit Persistenz ist ein Beharren auf das Bestehende inklusive dessen Dominanzverhältnisse gemeint. Die paradoxen Gleichzeitigkeiten sind unter anderem Ausdruck je subjektiver Arten und Weisen des Umgangs mit den beschriebenen Dynamiken in den Geschlechterverhältnissen und den daraus resultierenden subjektiven Krisenverarbeitungen. Was für die einen als die Möglichkeit erscheint, sich aus klassisch erfahrenen Männlichkeitsanforderungen herauszulösen, stellt für die anderen möglicherweise eine wichtige Gewissheit für das Selbstbild dar. Zum Beispiel ist die partnerschaftlich organisierte Sorge um Kinder und Aufteilung von Lohnarbeit für die einen eine Entlastung von der immer noch wirksamen Vorstellung des männlichen Familienernährers und -oberhaupts. Für die anderen stellt es die Vorstellung des männlichen Familienoberhaupts in Frage und damit das Gefühl, letztlich Herr im eignen Hause zu sein. Letztere tun daher möglicherweise alles dafür, Veränderungen zu ignorieren oder sich gegen sie zu immunisieren, da sie zur Infragestellung dieser angestammten Position führen könnten. Für wieder andere läuft eine partnerschaftliche Aushandlung dieser Fragen aus alltagspraktischen Bedingungen recht selbstverständlich mit, ist aber politisch ganz und gar nicht z.B. queer-feministisch ausgerichtet.

Aktuelle Debatten, z. B. über fürsorgliche Männlichkeiten können mit dem Konzept der hegemonialen Männlichkeit und dem Wissen um ihre Anpassungsfähigkeit an neue Bedingungen dahingehend überprüft werden, wie die beiden Fragen nach der Hierarchisierung nicht-männlicher Geschlechter sowie die Unterordnung anderer männlicher Subjekte beantwortet werden. Mit anderen Worten: Geht es schlicht um den Kampf um die hegemoniale Männlichkeitsposition oder geht es um geschlechtliche Verhältnisse und Beziehungsweisen, in denen weniger Herrschaft erlebt und ausgeübt wird?

Abschließend und ohne resignativ klingen zu wollen, müssen wir der Tatsache wohl gewahr sein, dass wir in Anbetracht des immer noch vorherrschenden neoliberalen Normalzustands aus der Nummer mit den Geschlechterhierarchien (und anderen Dominanzverhältnissen) erstmal nicht rauskommen. Es scheint uns unumgänglich, dass sich immer wieder Normen herausbilden, die manche symbolisch wie sozial privilegieren und andere symbolisch wie sozial marginalisieren. Aber die Theorie hilft uns, diese Mechanismen zu verstehen und das Scheitern von herrschaftlichen Anordnungen immer und immer wieder zu organisieren – indem wir andere Symbol-, Beziehungs-, Produktions- und Gesellschaftsmodelle erfinden, die ohne Dominanz auskommen. Und sie ausprobieren.

Raewyn Connell (2015): Der gemacht Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 4. Auflage

Raewyn Connell / James Messerschmidt (2005): Hegemonic Masculinity. Rethinking the Concept. In Gender & Society, Vol. 19 No. 6

Andreas Heilmann (2011): Normalität auf Bewährung.  Outings in der Politik und die Konstruktion homosexueller Männlichkeit hegemonialer Männlichkeit. Transcript.

James W. Messerschmidt (2018): Hegemonic Masculinity: Formulation, Reformulation, and Amplification. Rowman & Littlefield.

Sylka Scholz /Andreas Heilmann (Hrsg.) (2019): Caring Masculinities? Männlichkeiten in der Transformation kapitalistischer Wachstumsgesellschaften. Oekom-Verlag.


[1] Je nach Kontext können mehrere hegemoniale Formen von Männlichkeit nebeneinander existieren und es ist umstritten, ob in globaler Hinsicht von nur einer Form vorherrschender hegemonialer Männlichkeit gesprochen werden kann. Wir tendieren eher zur Pluralisierung.